Stille legt sich über den Kirchenraum; alle Glocken, alle Orgelregister schweigen. Der Priester tritt ein und wirft sich flach zur Erde – eine wortlose Homilie über die Wucht dieses Tages. Keine Messe wird gefeiert, weil das eine Opfer, dem jede Eucharistie entspringt, jetzt historisch‑einmalig geschieht: Der Hohepriester ist zugleich das Lamm (Hebr 9,11‑14). Die Liturgie bringt uns nicht bloß Erinnerungsstücke; sie zieht uns mitten hinein in die Stunde, in der Himmel und Erde miteinander ringen und die Liebe siegt, indem sie sich töten lässt.
Auf Golgota ergeht Gottes letztgültiges Urteil über die Sünde – nicht über den Sünder. „Er hat unsere Sünden mit seinem eigenen Leib auf das Holz getragen“ (1 Petr 2,24). Die Theologen sprechen von substantieller Stellvertretung: Christus nimmt nicht nur die Strafe, er schlüpft in die Rolle Adams, um die ganze ungehorsame Menschheit in sein Gehorsams‑Ja hineinzuziehen (Phil 2,8). Daraus entspringt das radikal Neue der christlichen Erlösung: Gott macht die Gottverlassenheit zur Berührungsfläche der Gnade; der Ort größter Finsternis wird zum lodernden Brennpunkt des Lichts.
Die drei Stunden der Wahrheit
„Vater, vergib ihnen …“ – Das erste Wort vom Kreuz sprengt jede menschliche Reziprozitätslogik; es eröffnet die Ethik des Reiches Gottes, in der Feindesliebe kein Ideal, sondern vollzogene Wirklichkeit ist.
„Mich dürstet.“ – Der Schöpfer, von dem alle Quellen stammen, verlangt nach einem Schluck verdünnten Weins. In diesem Durst kondensiert die ganze Inkarnation: Gott will wirklich alles Menschliche schmecken – auch die Trockenheit unseres Gebets.
„Es ist vollbracht.“ – Kein Schrei der Resignation, sondern der Siegesruf des Kyrios. Das griechische tetélestai ist Buchhalter‑Terminologie: „Die Schuld ist bezahlt.“ Zwischen Gott und Mensch bleibt kein offener Betrag.
Nach der uralten großen Fürbitte – zehn Bitten, die bis zu Atheisten und Staatslenkern reichen – wird ein verhülltes Kreuz schrittweise enthüllt. Jeder Ruf „Seht das Holz des Kreuzes, an dem das Heil der Welt gehangen hat“ zwingt uns, den Blick auf das zu richten, was wir im Alltag gern ästhetisieren. Hier ist kein geschliffenes Goldkreuz, sondern raues Werkzeug der Hinrichtung. Wir küssen es nicht aus morbider Frömmigkeit, sondern als Akt der Besitzergreifung: Das Kreuz ist jetzt unser Passierschein in die göttliche Familie.
Die Kommunion wird aus dem Tabernakel gebracht – kein Kelch, keine Wandlung. Ein subtiler Hinweis: Heute essen wir den gekreuzigten, nicht den auferstandenen Herrn. Der Geschmack der Hostie ist Karfreitag pur: totale Entäußerung.
Die Kirche nennt Karfreitag einen Dies obrigatorius – Tag der gebotenen Abstinenz und des strengen Fastens. Es ist mehr als asketische Disziplin: Fasten kappt die letzte Fluchtmöglichkeit vor dem Skandal des Kreuzes. Wer hungrig ist, spürt körperlich, dass Erlösung kein Konsumgut ist.
Die Kreuzverehrung ist zudem mit einem vollkommenen Ablass verbunden (Enchiridion Indulgentiarum 13). Das bedeutet keineswegs „Rabatt auf das Fegefeuer“, sondern reale Teilnahme am Gnadenschatz, den Christus heute aufschließt. Die Kirche handelt hier wie die Hauptmannslanze: Sie öffnet die Seite des Gekreuzigten, damit Blut und Wasser – Sinnbild von Sakramenten und Geist – weiterströmen.
Das Kreuz ist weniger Strafinstrument als Brautbett: Der Bräutigam schenkt die letzte Gabe – sein Leben – und vollzieht den neuen Bund mit blutiger Tinte. Darum sieht Johannes im durchbohrten Herzen „die Quelle des Geistes“ (Joh 19,34‑37): Aus derselben Wunde, aus der der Tod eindringt, bricht Kirche hervor. Wer am Karfreitag das Kreuz umarmt, umarmt zugleich seine eigene Geburt von oben.
„Wenn einer mir nachfolgen will, verleugne er sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich …“ (Mk 8,34) – Nie klingt dieser Satz plastischer als heute. Karfreitag ist kein Theater, das wir beklatschen; er will Nachahmungstat. Wo immer wir Ungerechtigkeit auf uns nehmen, statt sie weiterzureichen, wird das Privileg des Mit‑Erlösens konkret (Kol 1,24). Die Passion setzt sich fort in Krankenhäusern, in verfolgten Christen, in jeder versteckten Geduld.
Die Liturgie endet in bedrückender Unfertigkeit; der Tabernakel bleibt leer, die Lichter verlöschen. Und doch trägt diese Finsternis einen leisen, unzerstörbaren Hoffnungsfunken: Der Sabbat Gottes bricht an, das göttliche Ruhen nach vollbrachtem Werk. Wer heute den Mut hat, beim Grab auszuharren, wird am dritten Tag Zeuge sein, wie die größte Niederlage sich als Weltenwende entpuppt.
Darum ist Karfreitag zugleich Talsohle und Gipfel: Unten – weil Gott tiefer hinabsteigt als jede Hölle; oben – weil höherer Sieg nicht denkbar ist als Liebe, die selbst den Tod enteignet. Wer hier kniet, kann getrost aufstehen – frei von Schuld, beflügelt für das Leben, das nach Ostern niemals mehr endet.