> Werdet 500 Jahre lang überfallen, versklavt, vergewaltigt, ermordet und unterjocht
> Eure Heimatländer versinken in Armut, weil unablässige Angriffe zur See Handel und Transportwege zerstören
> Byzanz fleht um Hilfe, Südfrankreich wird zur Sklavenjagd genutzt, Spanien ist besetzt und Frankreich wird angegriffen
> Kirchen brennen, Nonnen in eroberten Städten werden massenhaft vergewaltigt; Süditalien und Sizilien leben in ständiger Angst
> Ruft Adlige, Bauern, Arme und Reiche gleichermaßen dazu auf, der jahrhundertelangen Unterdrückung und dem Bösen ein Ende zu setzen und die heiligen Länder zurückzuerobern, die euch heilig sind
> Verkauft eure Ländereien und euren gesamten Besitz, um Rüstung, Schwert und Proviant für die Reise um die halbe Welt zu finanzieren – im Wissen, dass ihr nicht zurückkehren werdet, aber an die Sache der Gerechtigkeit glaubt
> Verliert Hunderttausende tapferer Männer über mehr als ein Jahrhundert in einem endlosen Krieg
> Tausend Jahre später pissen eure Nachfahren auf eure Gräber und kriechen genau vor jenen zu Kreuze, die ihr damals mit eurem Höllengang aufzuhalten versucht habt
Mit diesen drastischen Worten, die eine Jahrhunderte währende Leidensgeschichte aus der Sicht mittelalterlicher Christen zugespitzt zusammenfassen, wird deutlich, warum die Kreuzzüge von vielen Zeitgenossen als Verteidigungsmaßnahme gegen die als bedrohlich empfundene Ausweitung des Islam angesehen wurden. Natürlich ist dieses Bild einseitig und emotional aufgeladen; dennoch verdeutlicht es, wie stark das Bedürfnis nach einer militärischen Reaktion aus dem christlichen Europa heraus empfunden sein mag.
Im Folgenden wollen wir die historischen Fakten zu den Kreuzzügen und ihren Hintergründen beleuchten, einige verbreitete Mythen hinterfragen und gleichzeitig einen Blick auf die ethisch-religiösen Grundlagen werfen, die Rittertum und Königsherrschaft im Mittelalter prägten. Dabei gilt es, die damaligen politischen, religiösen und sozialen Strukturen zu berücksichtigen und nicht von heutigen Maßstäben auszugehen.
Bereits vor dem Ersten Kreuzzug (1096–1099) hatte es jahrhundertelange Spannungen und Konflikte zwischen dem islamischen und dem christlichen Einflussbereich gegeben. Seit dem 7. Jahrhundert expandierten muslimische Reiche in Gebiete, die zuvor zum Christentum gehört hatten: Syrien, Nordafrika (darunter Ägypten, Libyen, Algerien, Marokko), das ehemalige Westgotenreich in Spanien und Teile Kleinasiens (Byzanz), bis hin zur Eroberung Jerusalems durch die Seldschuken. Auch wiederholte Angriffe auf süditalienische Küstenregionen und andere Teile Europas hinterließen tiefe Spuren von Furcht und Verbitterung bei den dortigen Christen.
Diese Entwicklungen führten schließlich dazu, dass sich im lateinischen Westen der Wunsch formte, die Heiligen Stätten (vor allem Jerusalem) und byzantinische Gebiete zurückzuerobern oder zu schützen. Der byzantinische Kaiser rief den Papst in Rom um Unterstützung an, als sich die Bedrohung im Osten zuspitzte. Papst Urban II. folgte diesem Hilferuf und rief 1095 beim Konzil von Clermont zum Kreuzzug auf:
„Obwohl ihr, o Söhne Gottes, euch fester denn je zuvor verpflichtet habt, untereinander Frieden zu halten und die Rechte der Kirche zu wahren, bleibt noch ein großes Werk für euch zu tun. Denn eure Brüder, die im Osten leben, bedürfen dringend eurer Hilfe, und ihr müsst ihnen unverzüglich die Unterstützung zukommen lassen, die ihnen so oft versprochen wurde. Wie die meisten von euch bereits gehört haben, sind die Türken und Araber in ihre Gebiete eingefallen und haben das Land Romania erobert, bis an die Ufer des Mittelmeeres … Sie haben immer mehr von den Ländern jener Christen besetzt, haben viele getötet oder gefangen genommen, Kirchen zerstört und das Reich verwüstet … Deshalb bitte ich euch, oder vielmehr der Herr selbst bittet euch, als Herolde Christi dies überall zu verkünden und alle Menschen, ob Fußsoldaten oder Ritter, Arme oder Reiche, unverzüglich aufzurufen, jenen Christen beizustehen und dieses schändliche Volk aus den Ländern unserer Freunde zu vertreiben … Christus befiehlt es!“
Ob der exakte Wortlaut so fiel, ist umstritten, da zeitgenössische Berichte voneinander abweichen. Dennoch zeigt dieses Zitat, wie sehr die Kreuzzüge von vielen als dringende Verteidigungsaktion gegen eine als bedrohlich empfundene Ausweitung des Islams gesehen wurden.
Wahrheit:
Die Kreuzzüge wurden zwar vom lateinisch-christlichen Westen begonnen, waren aber weitgehend eine Reaktion auf jahrhundertelange muslimische Expansion in ehemals christliche Gebiete. Schon vor 1095 hatten muslimische Eroberungen Syrien, Nordafrika und fast die gesamte Iberische Halbinsel erfasst. Außerdem waren seldschukische Truppen weit in das christliche Byzanz vorgedrungen und hatten Jerusalem erobert. Daher war die Idee eines Verteidigungskrieges aus damaliger Sicht naheliegend, auch wenn nicht alle Motive der Kreuzfahrer rein defensiver Natur waren.
Wahrheit:
Zweifellos gab es Kreuzfahrer, die auf persönlichen Vorteil aus waren. Doch die meisten Ritter und Adligen gingen enorme finanzielle Risiken ein, um überhaupt an einem Kreuzzug teilzunehmen: Rüstung, Waffen, Proviant und Überfahrt waren teuer. Viele verkauften oder verpfändeten Ländereien und Besitz. Religiöse Beweggründe und der Wunsch nach Ablässen (Erlassung zeitlicher Sündenstrafen) waren oft gewichtiger als pure Landgier.
Wahrheit:
Die Kreuzzüge waren zweifellos gewaltsam, und es gab schreckliche Massaker (wie 1099 bei der Eroberung Jerusalems). Doch ein Bild ausschließlich mordender Barbaren greift zu kurz. Manchmal wurden auch Friedensverträge ausgehandelt, wie zwischen Sultan Saladin und den Christen nach der Rückeroberung Jerusalems (1187). Zudem gab es in den Kreuzfahrerstaaten durchaus friedliche Phasen des Zusammenlebens und des Handels zwischen Christen, Muslimen und Juden. Jede Bewertung der Grausamkeiten sollte berücksichtigen, dass die mittelalterliche Kriegsführung generell sehr brutal war – auf beiden Seiten.
Wahrheit:
Das Ziel, Jerusalem dauerhaft zu kontrollieren, wurde nicht erreicht. Dennoch entstanden Kreuzfahrerstaaten, wie das Königreich Jerusalem, die sich fast zwei Jahrhunderte hielten. Außerdem kam es zu einem kulturellen und wirtschaftlichen Austausch zwischen Europa und dem Nahen Osten, der das Militärwesen, den Handel und selbst die päpstliche Autorität in Europa nachhaltig beeinflusste. Von einem völligen Scheitern kann man daher nicht sprechen.
Wahrheit:
Zwar war die Religion von Anfang an ein wichtiger Faktor – man wollte die Heiligen Stätten sichern und christliche Pilger schützen – doch es mischten sich politische, ökonomische und soziale Motive unter diese Frömmigkeit. Fürsten nutzten die Kreuzzüge, um ihren Einfluss zu erweitern, das Papsttum festigte seine Autorität über die Christenheit, und neue Handelswege zwischen Ost und West sorgten für regen Austausch in Wissenschaft, Philosophie und Kunst. Die Kreuzzüge waren also kein monolithischer „Religionskrieg“, sondern ein komplexes Geflecht unterschiedlichster Interessen.
Ein Beispiel für das heutige Missverständnis der Kreuzzüge ist der sogenannte „Reconciliation Walk“ von 1999, als zum 900. Jahrestag des Ersten Kreuzzugs Hunderte Christen von Deutschland ins Heilige Land zogen, um sich für die Taten der Kreuzfahrer zu entschuldigen. Manche trugen T-Shirts mit dem arabischen Schriftzug „Ich entschuldige mich“. Zwar ist das eine edle Geste der Versöhnung, doch sie basiert oft auf einem einseitigen Geschichtsbild, das den komplexen mittelalterlichen Kontext ausblendet. Durch solche Aktionen kann es passieren, dass man Mythen eher verstärkt als ausräumt, weil man moderne Wertmaßstäbe unverändert auf eine sehr fremdartige Epoche überträgt.
Trotz aller politischen und militärischen Interessen waren die Kreuzzüge maßgeblich von einem religiösen und moralischen Selbstverständnis geprägt. Dieses Ritterideal und die christliche Lebensführung spielten im europäischen Mittelalter eine große Rolle. Zwei exemplarische Quellen beleuchten, wie ein frommer König (Ludwig IX. von Frankreich) und ein humanistischer Gelehrter (Erasmus von Rotterdam) die Pflichten und Tugenden eines christlichen Ritters oder Herrschers sahen.
Ludwig IX. (auch „Saint-Louis“ genannt) galt als einer der bedeutendsten französischen Könige des 13. Jahrhunderts und wurde später heiliggesprochen. Er nahm selbst an zwei Kreuzzügen teil (dem Sechsten und dem Siebten Kreuzzug) und stand für eine ausgeprägte Frömmigkeit. Aus dieser Haltung heraus verfasste (oder ließ verfassen) er einen Brief an seinen Sohn Philipp III., in dem er Ratschläge für ein gerechtes, frommes und dem Gemeinwohl dienendes Königtum gab. Ob jedes Wort exakt auf Ludwig IX. zurückgeht, ist zwar nicht sicher, doch die Schrift spiegelt eindeutig das Denken eines frommen mittelalterlichen Herrschers wider.
Die Anweisungen zeigen, wie sehr Gottesfurcht, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit die Richtlinien für gutes Regieren und rechtschaffenes Leben bilden sollten. In der Zusammenfassung lesen sie sich so (nach den Überlieferungen der mittelalterlichen Chronisten und Schreiber):
Setze Gott über alles und liebe Ihn von ganzem Herzen.
Hüte dich vor jeder schweren Sünde wie vor einer Giftschlange.
Verzage nicht in Zeiten der Not, sondern nimm Widerwärtigkeiten geduldig an.
Bewahre Demut in Zeiten des Erfolgs.
Trage die Wunden deiner Seele dem „geistlichen Arzt“ (dem Beichtvater) vor und scheue keine noch so bittere „Medizin“.
Bete häufig und mit Andacht.
Sei barmherzig und großzügig gegenüber den Armen.
Bei Zweifeln suche Rat bei einem gottesfürchtigen Menschen.
Halte dir aufrechte und fromme Berater; meide böse Gesellschaft.
Was gut ist, behalte; was schlecht ist, verwerfe.
Höre bereitwillig denen zu, die von Gott sprechen.
Lass keine Verleumdung in deiner Gegenwart zu.
Dulde kein Gotteslästern oder Lästerung der Heiligen in deiner Nähe.
Zeige Dankbarkeit – zuerst Gott, dann den Menschen.
Liebe und beschütze die Gerechtigkeit, und höre die Klagen auch der Geringsten.
In unklaren Rechtssachen sollst du ohne Ansehen der Person handeln, notfalls sogar gegen dich selbst.
Erstatte fremdes Gut unverzüglich zurück.
Achte und beschütze die Geistlichen und die Kirche.
Liebe und ehre deine Eltern.
Wenn du gegen andere Christen Krieg führen musst, verschone Kirchen und Klöster.
Versuche Streit und Krieg so rasch wie möglich beizulegen.
Behalte deine Diener und Beamten im Auge; sie sollen gerecht handeln.
Zeige stets die gebührende Ehrfurcht gegenüber dem Papst.
Halte Maß bei deinen Ausgaben.
Lass nach deinem Tod für dein Seelenheil Messen und Gebete halten.
Viele dieser Punkte klingen schlicht und fromm, sind jedoch im Kontext des 13. Jahrhunderts eine konkrete Handlungsanweisung für einen König und Heerführer. Sie verdeutlichen: Politische Macht war in den Augen Ludwigs IX. stets mit religiöser Verantwortung verknüpft.
Während Ludwig IX. den Geist des 13. Jahrhunderts verkörpert, steht Erasmus von Rotterdam (1466/69–1536) für die Epoche des Renaissance-Humanismus. Trotzdem bleibt auch er dem Ideal des christlichen Ritters verhaftet – allerdings mit stärkerem Akzent auf persönliche Frömmigkeit, Selbstprüfung und Bildung. In seinem „Enchiridion militis Christiani“ (Handbuch des christlichen Ritters) formuliert er 22 Regeln, die ebenso gut ins späte Mittelalter wie in die beginnende Neuzeit passen:
Vertiefe und stärke deinen Glauben.
Lebe deinen Glauben sichtbar; sei ein lebendiges Zeugnis.
Erkenne und verstehe deine Ängste; lass dich nicht von ihnen beherrschen.
Mach Jesus Christus zum einzigen Leitbild und zum Ziel deines Lebens.
Wende dich ab von übermäßigen materiellen Dingen; lass dich nicht von ihnen besitzen.
Übe dein Urteilsvermögen, um das Wesen von Gut und Böse zu unterscheiden.
Lass dich durch kein Scheitern von Gott abbringen.
Begegne Versuchungen mit Gottes Hilfe, nicht mit Ausreden.
Sei stets wachsam gegenüber Angriffen von jenen, die das Evangelium fürchten oder das Gute hassen.
Sei auf Versuchungen vorbereitet und meide sie, wo du kannst.
Hüte dich besonders vor moralischer Feigheit und Hochmut.
Erkenne deine Schwächen und wandle sie in Stärken um.
Kämpfe jeden Kampf, als wäre es dein letzter.
Ein tugendhaftes Leben lässt keinen Raum für Laster; schon kleine geduldete Laster werden tödlich.
Bedenke bei wichtigen Entscheidungen immer die Alternativen und wäge sie im Licht des Guten ab.
Gib niemals nach oder auf, wenn es um moralische Grundsätze geht.
Habe stets einen Plan. Schlachten werden oft schon vor ihrem Beginn gewonnen oder verloren.
Denke über die Folgen deines Handelns nach, ehe du es tust.
Tue nichts – weder öffentlich noch privat –, das nicht auch deine Nächsten guten Gewissens billigen könnten.
Tugend ist Lohn genug; sie braucht keinen Beifall.
Das Leben ist fordernd und kurz – nutze es sinnvoll.
Bekenne und bereue deine Fehler, verliere nie die Hoffnung, ermutige deine Brüder und fange immer wieder neu an.
Auch diese Regeln sind ein Spiegelbild der mittelalterlich-christlichen (bzw. frühneuzeitlich-christlichen) Ethik: Ein „Ritter“ sollte nicht nur kämpfen können, sondern vor allem an sich arbeiten, im Glauben wachsen und für das Gemeinwohl einstehen. Es fällt dabei auf, dass Erasmus betont, jeder solle diese Tugenden anstreben – im Kern trägt also jeder Getaufte eine gewisse „Ritterverantwortung“ für seinen Nächsten und die Gesellschaft.
Die Kreuzzüge waren zweifellos von Gewalt begleitet und spiegeln eine Zeit wider, in der es kaum klare Grenzen zwischen Glauben und Politik gab. Doch die bloße Reduktion auf „fanatische Kreuzzügler“ einerseits oder „unschuldige Opfer“ andererseits wird der Komplexität der Ereignisse nicht gerecht. Die Beispiele aus den Quellen – ob Papst Urban II., Ludwig IX. oder Erasmus – belegen, dass das Rittertum und die Teilnahme an einem Kreuzzug (jedenfalls idealtypisch) mit religiösen und moralischen Pflichten verknüpft waren. Diese Verpflichtung zur Frömmigkeit, Gerechtigkeit und Nächstenliebe war kein leeres Gerede, sondern oft echtes Leitbild für das Handeln.
Zwar gab es in der Realität große Widersprüche: Kreuzzugsideal und Grausamkeiten bestanden nebeneinander und haben bis in unsere Zeit Diskussionen ausgelöst. Dennoch lohnt es sich, beide Seiten im Blick zu behalten: die historisch-politischen Gründe wie die spirituellen und moralischen Konzepte.
Gerade heute, wo man leicht in vereinfachte „Gut/Böse“-Deutungen verfällt, kann ein differenziertes Verständnis der Kreuzzüge helfen, Vorurteile abzubauen. Statt zeitloser Vorwürfe oder Entschuldigungen gilt es, die Epoche im Kontext zu betrachten: Die Kreuzzüge sind ein Teil des mittelalterlichen Weltbildes, geprägt von Glaubenseifer, Machterweiterung, gegenseitiger Bedrohungswahrnehmung – und dennoch von einem Ethos durchdrungen, das Glaube, Gerechtigkeit und persönliche Heiligung in den Mittelpunkt stellen wollte.
Und selbst wenn einige moderne Gesten der „Versöhnung“ mit den besten Absichten erfolgen, sollte man sich dabei bewusst sein, dass die mittelalterliche Sichtweise auf Krieg und Glauben eben nicht mit heutigen Maßstäben deckungsgleich ist. Wer sich jedoch ernsthaft mit den Quellen und Hintergründen auseinandersetzt, wird erkennen, dass die Kreuzzüge mehr waren als reine Aggression – und dass viele ihrer Protagonisten sich durchaus verantwortlich fühlten: gegenüber Gott, ihrem Volk und ihrer eigenen Seele.
Ob man die Kreuzzüge letztlich als gerechtfertigte Abwehr oder als problematische Eroberungsfeldzüge betrachtet, bleibt eine Frage der Perspektive. Fest steht: Sie waren ein epochales Ereignis, das Europa und die Mittelmeerwelt veränderte. Sie lassen sich nicht auf einseitige Urteile reduzieren, sondern verlangen eine differenzierte Betrachtung von Motiven, Verlauf und Selbstverständnis der Beteiligten – und genau dazu können Quellen wie die Briefe Ludwigs IX. oder die Mahnungen des Erasmus wertvolle Einblicke liefern.