Die Theologie des Leibes („Theologia Corporis“) ist die Bezeichnung für die große Katechesereihe, die Papst Johannes Paul II. zwischen 1979 und 1984 in seinen Mittwochsaudienzen gehalten hat. Sie gilt als eine der tiefgründigsten anthropologischen Reflexionen des 20. Jahrhunderts.
Schon am Anfang wird deutlich: Der Mensch trägt in sich eine unstillbare Sehnsucht nach Liebe, Annahme und Erfüllung. Diese Sehnsucht kann letztlich nur Gott stillen. Alles andere – Lust, Konsum, Macht, Erfolg – bleibt Stückwerk. Weil Gott selbst der Ursprung und das Ziel unserer Sehnsucht ist, setzt die Kirche den Maßstab der Liebe so hoch. Er wirkt streng, weil er nicht nach menschlichem Maß, sondern nach Gottes Maß misst. Nicht, um den Menschen kleinzumachen, sondern um ihn zu seiner eigentlichen Größe zu führen.
Johannes Paul II. wollte zeigen, dass der menschliche Leib nicht bloß eine biologische Hülle ist, sondern Träger einer göttlichen Botschaft. Der Leib spricht eine „Sprache“ – die Sprache der Liebe, des Bundes, der Hingabe. Er ist geschaffen, um Gemeinschaft auszudrücken und den Menschen in seiner Berufung als Abbild Gottes zu offenbaren.
Die Katechesen folgen einer inneren Dramaturgie:
Zum „Anfang“: die ursprünglichen Erfahrungen des Menschen vor dem Sündenfall.
Das „Herz“: Jesu Wort in der Bergpredigt und die Erlösung des Leibes.
Die „Vollendung“: die Auferstehung des Leibes.
Erst in dieser Perspektive wird verständlich, warum schon der Blick das Herz entlarvt – und warum die eheliche und die zölibatäre Berufung je auf die eschatologische Hochzeit verweisen.
Vor dem Sündenfall erlebt der Mensch eine dreifache Ur-Erfahrung:
Die ursprüngliche Einsamkeit: Der Mensch erkennt sich als Person vor Gott – einzigartig und frei, fähig zu Wahrheit und Liebe.
Die ursprüngliche Einheit: Mann und Frau entdecken die Berufung, „ein Fleisch“ zu werden – gegenseitige Selbsthingabe ohne Angst.
Die ursprüngliche Nacktheit: Nacktheit ohne Beschämung, nicht Schamlosigkeit, sondern Leuchtkraft des Leibes – Transparenz der Person in der Gabe.
Aus diesen Erfahrungen leitet Johannes Paul II. die „bräutliche Bedeutung“ des Leibes ab: Der Leib ist geschaffen, Liebe zu sprechen.
Mit dem Sündenfall tritt die Begierde ein, und mit ihr die Scham. Scham ist nicht Feind der Liebe, sondern Wächterin der Person: Sie schützt das Geheimnis vor dem Zugriff des Blicks, der besitzen will. Christus heilt den Menschen nicht durch bloßen Moralismus, sondern durch die Erlösung: Der Heilige Geist ordnet das Begehren neu, er schenkt die „Erlösung des Leibes“ (vgl. Röm 8). Keuschheit ist darum nicht zuerst Verzicht, sondern Fähigkeit zu lieben.
Die Theologie des Leibes von Papst Johannes Paul II. zeigt den Menschen in seiner tiefsten Würde: geschaffen, um zu lieben. Der Leib selbst ist nicht bloß ein biologischer Mechanismus, sondern Sprache und Sakrament der Liebe.
Doch sofort stellt sich die Frage: Welche Liebe?
Liebe schenkt sich dem Anderen.
Begierde benutzt den Anderen.
Liebe achtet die Person.
Begierde macht zum Objekt.
Liebe fragt: Was ist für dich das Beste?
Begierde fragt: Was bekomme ich?
Liebe gibt.
Begierde nimmt.
Johannes Paul II. sagt es scharf: „Die Begierde ist die Täuschung des menschlichen Herzens“
Maria ist Urgestalt personaler Ganzhingabe. Ihr Fiat – „Mir geschehe“ – ist das Gegenbild der Begierde: nicht nehmen, sondern empfangen und schenken. In ihr wird sichtbar, dass Annahme des Ursprungs und Fruchtbarkeit zusammengehören.
Christus löscht den Eros nicht aus; er reinigt und erhöht ihn. Gereinigter Eros wird tragfähig, weil er von der Agape geformt wird – von jener Liebe, die den anderen um seiner selbst willen bejaht. Philia – die Freundschaft – wird zum alltäglichen Atem dieser Liebe. So entsteht eine Einheit: Eros als Sehnsucht, von Agape geläutert; Philia als Treue im Alltag.
Jesus selbst greift dies in der Bergpredigt auf:
„Wer eine Frau lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen“ (Mt 5,28).
Der Blick verrät das Herz. Der Blick ist niemals neutral – er offenbart, ob ich den anderen als Geschenk oder als Ding sehe. Johannes Paul II. präzisiert: Ehebruch im Herzen geschieht nicht erst beim Blick auf eine fremde Frau; er geschieht immer dann, wenn ein Mann „eine Frau so anblickt“ – auch wenn es die eigene Ehefrau wäre (vgl. Kat. 43:3). Das Maß ist also nicht der Beziehungsstatus, sondern die innere Haltung.
Um es noch klarer zu machen: Liebe schenkt sich dem anderen – Begierde benutzt den anderen. Liebe achtet den Menschen als Person – Begierde reduziert ihn zum Objekt. Liebe fragt nach dem Wohl des Anderen – Begierde sucht nur das eigene Glück. Darum betont Jesus, dass schon im Blick das Herz offenbar wird: In ihm entscheidet sich, ob ich den anderen liebe oder konsumiere.
Der Blick verrät, was in meinem Herzen ist – und er prägt zugleich, wie der andere sich selbst wahrnimmt. Kein Mensch sieht sein eigenes Gesicht, nur im Blick des anderen erkennt er, wer er ist. Wenn mich die Augen meines Partners mit Liebe und Achtung anstrahlen, erfahre ich: ich bin schön, begehrenswert, liebenswert. Doch wenn in diesem Blick Gleichgültigkeit oder Abwertung liegt, trifft mich das ins Innerste.
Darum sagt Johannes Paul II.: Der Blick ist mehr als Biologie, er ist ein geistlicher Ort.
Keuschheit wächst durch Praxis: custodia oculorum (Wachsamkeit des Blicks), maßvoller Mediengebrauch, Fasten des Herzens, regelmäßige Beichte, treue Eucharistie. Nicht Stoizismus, sondern Gnade und Übung. So wird der Eros von innen verwandelt.
Hier liegt der Kern: Der Leib selbst besitzt eine „bräutliche Bedeutung“. Er ist fähig, Liebe sichtbar zu machen – jene Liebe, in der ein Mensch sich selbst verschenkt. Der Leib „spricht“: Das ist mein Leib, hingegeben für dich.
Doch schenken kann nur, wer sich selbst besitzt. Wer seinen Begierden ausgeliefert ist, kann nicht frei lieben. Deshalb ist Reinheit nicht Prüderie, sondern innere Freiheit. Nur der, der Herr seiner Sehnsüchte ist (Selbstbeherrschung), kann sich selbst als Gabe verschenken. Ganz deutlich bringt es das II. Vatikanische Konzil zum Ausdruck: Der Mensch ist „auf Erden die einzige von Gott um ihrer selbst willen gewollte Kreatur (…), (die) sich selbst nur durch die aufrichtige Hingabe seiner selbst vollkommen finden kann“.
Johannes Paul II. nennt das die bräutliche Bedeutung des Leibes: Der Mensch findet sich nur, indem er sich schenkt. Aber das setzt Freiheit voraus. Reinheit, verstanden als Selbstbeherrschung, ist keine Einschränkung, sondern die Befreiung zur Liebe. „Mit reinem Herzen zu lieben bedeutet, den Sinn des Lebens wiederzuentdecken“.
Keuschheit ist die integrierte Einheit von Leib und Herz. Sie ordnet Kräfte, statt sie zu unterdrücken. Gewohnheiten prägen: was wir schauen, nähren, wiederholen. Deshalb: geistliche Disziplin (Gebet, Sakramente), leibliche Disziplin (Schlaf, Arbeit, Sport) und eine Kultur der gegenseitigen Achtung. Keuschheit ist nicht „Nein“ zur Liebe, sondern „Ja“ zur Wahrheit des Leibes.
„Frage die Schönheit der Erde… – ihre Schönheit ist ein Bekenntnis“ (Augustinus). Die Welt bekennt den Schöpfer durch Glanz. Der Leib trägt Anteil an dieser Epiphanie – nicht als Kult des Körpers, sondern als Hinweis auf den Schönen selbst. Ästhetische Bildung und Keuschheit gehören zusammen: Die Augen lernen, Schönheit als Spur Gottes zu sehen, nicht als Objekt des Konsums.
Die Theologie des Leibes fasst das Wesen der wahren Liebe in vier Grundmerkmalen zusammen: frei, bedingungslos, treu und lebensspendend. Diese Eigenschaften sind nicht bloß idealistische Wünsche, sondern Kriterien, die aus der Offenbarung selbst hervorgehen.
Frei: Liebe setzt Freiheit voraus. Johannes Paul II. betont, dass der Mensch „Herr seiner selbst“ sein muss, um sich schenken zu können. Jede echte Liebe ist daher eine freie Zustimmung – nicht erzwungen, nicht von Begierden getrieben, sondern aus innerer Freiheit geboren. Christus selbst schenkt seine Liebe am Kreuz in vollkommener Freiheit: „Niemand entreißt sie mir, sondern ich gebe sie aus freiem Willen“ (Joh 10,18).
Bedingungslos (oder: ganz und vorbehaltlos): Die Liebe Gottes ist Agape – eine Liebe, die nicht nach Gegengabe fragt. Sie liebt den anderen nicht, weil er etwas leistet oder attraktiv erscheint, sondern um seiner selbst willen, weil er von Gott gewollt ist. Die Ehe wird deshalb im Ritus mit der Frage besiegelt: „Sind Sie bereit, den Bund der Ehe aus freiem Entschluss und in voller Liebe einzugehen?“ – eine klare Anforderung bedingungsloser Hingabe.
Treu: Liebe ist ihrem Wesen nach dauerhaft. Jesus stellt die Ehe in die ursprüngliche Schöpfungsordnung zurück: „Was Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen“ (Mt 19,6). Johannes Paul II. erklärt, dass Treue kein äußerlicher Zwang ist, sondern die innere Konsequenz echter Hingabe. Wer einmal „Ja“ gesagt hat, ist berufen, dieses Ja zu leben – in guten wie in schweren Tagen. Darum ist Treue ein Sakramentenzeichen: sie macht sichtbar, dass Gott selbst treu bleibt.
Lebensspendend (fruchtbar): Wahre Liebe ist nie in sich selbst verschlossen. In der Ehe wird das konkret in der Offenheit für Kinder: „Sind Sie bereit, die Kinder anzunehmen, die Gott Ihnen schenken will?“ (Eheversprechen). Johannes Paul II. betont, dass auch der Zölibat Fruchtbarkeit besitzt – geistliche, missionarische, väterliche oder mütterliche. Liebe, die steril bleibt, ist eine Lüge; echte Liebe bringt Leben hervor, weil sie Anteil an der Schöpferkraft Gottes hat.
Diese vier Eigenschaften sind nicht äußerliche „Zusätze“, sondern das innere Wesen der Liebe, wie sie von Gott geschaffen und in Christus vollendet wurde. Sie bilden den Prüfstein für jede Berufung, ob in Ehe oder Zölibat, und zeigen, dass der Leib wirklich „Sprache Gottes“ ist: Er kann nur dann die Wahrheit ausdrücken, wenn er frei, bedingungslos, treu und lebensspendend gelebt wird.
Diese Eigenschaften spiegeln Gottes innerstes Leben: Liebenden, Geliebten und das Band der Liebe – Vater, Sohn und Heiliger Geist. Der Mensch ist imago Trinitatis: geschaffen, um diesen Liebesaustausch sichtbar zu machen – auch leiblich. Gott ist „ewiger Liebesaustausch“ und bestimmt uns zur Teilhabe daran. Eheliche Fruchtbarkeit und zölibatäre geistliche Fruchtbarkeit sind zwei verschiedene Spiegel dieser trinitarischen Dynamik: Gabe – Antwort – Überfluss des Lebens.
Die Berufung zur Liebe zeigt sich in zwei großen Formen:
Die Ehe ist Abbild der Liebe Christi zu seiner Kirche. Wenn Mann und Frau „ein Fleisch“ werden, ist es mehr als ein körperlicher Akt – es ist eine Sakramentensprache. Wie Christus in der Eucharistie sagt: „Das ist mein Leib, hingegeben für euch“, so sagt der Ehemann, die Ehefrau: „Das ist mein Leib, hingegeben für dich.“
Der Zölibat dagegen ist ein übernatürliches Zeichen. Er ist die „Verschwendung“ des Kostbarsten für Christus – wie Maria, die das kostbarste Öl über den Herrn gießt. Für Jesus nur das Beste: ganze, ungeteilte Hingabe – freiwillig, freudig, endgültig. Zölibatäre Menschen sind lebendige Vorzeichen der kommenden Hochzeit: Gott allein genügt. Der radikale Verzicht auf irdische Ehe, um die himmlische Hochzeit vorwegzunehmen. Die jungfräuliche Hingabe ist nicht weniger Liebe, sondern die Vorahnung der vollkommenen Liebe im Himmel. Der Zölibat ist kein Minus an Liebe, sondern ein eschatologisches Plus: Die Sexualität wird in reine Gabe verwandelt.
Die „Sprache des Leibes“ verstummt nicht im Tod. In der Auferstehung wird der Leib verklärt: keine Begierde, sondern reine Gabe; keine Zerbrechlichkeit, sondern Durchschein auf Gott. Ehe und Zölibat sind vorläufige Ikonen: Die Ehe deutet auf die endgültige Gemeinschaft der Heiligen; der Zölibat nimmt sie voraus. So spannt die Theologie des Leibes einen Bogen vom „Anfang“ bis zur „Vollendung“.
Beides zeigt: Der Leib ist nicht zum Konsum geschaffen, sondern zur Hingabe. „Das ist mein Leib – hingegeben für dich.“ Diese Sprache prägt Ehe, Zölibat und alltägliche Liebe: Eltern, die nachts aufstehen; Priester, die beichten hören; Arbeit, die treu getan wird – alles kann werden: Mein Leib, hingegeben für dich.
An diesem Punkt wird deutlich: Johannes Paul II. denkt Liebe radikal hoch, ja fast unerreichbar. Für Katholiken ist das kein Zufall, sondern Absicht. Denn die Kirche lehrt, dass die Liebe nicht irgendeine menschliche Regung ist, sondern Teilhabe am innersten Leben Gottes selbst: der Dreifaltigkeit.
Deshalb ist der Anspruch so groß: Treue ein Leben lang. Hingabe ohne Rückhalt. Liebe, die den anderen um seiner selbst willen bejaht, nicht weil er „nützlich“ oder „schön“ ist, sondern weil er von Gott gewollt ist.
Viele sagen: „Das ist doch zu viel verlangt!“ – und haben recht, wenn man nur die menschlichen Kräfte betrachtet. Aber die katholische Sicht ist: Wir dürfen, ja wir sollen, nach diesem Ideal greifen. Wir sind nicht dazu berufen, die Liebe kleinzurechnen auf das Maß unserer Schwäche, sondern Gott selbst hebt uns hoch auf das Maß seiner Liebe.
Hier zeigt sich die Schönheit des katholischen Ideals: Die Kirche wagt es, Liebe nicht kleinzudenken. Sie besteht darauf, dass Liebe mehr ist als Gefühl. Sie ist Entscheidung, Hingabe, Agape – eine Liebe, die nicht rechnet, nicht nach Gegengabe fragt, sondern sich selbst verschenkt. Dieses Ideal wirkt fast übermenschlich, doch genau darin liegt seine Größe: Wir dürfen uns nach einer heiligen, göttlichen Liebe sehnen – und Gott selbst schenkt uns die Gnade, dass sie möglich wird.
Johannes Paul II. hat es Jugendlichen einmal so erklärt: „Mag die christliche Ehe auch einem hohen Gebirge gleichen, das die Eheleute in die Nachbarschaft Gottes hebt – der Aufstieg ist mühsam und kostet Zeit. Aber wäre das ein Grund, das Gebirge abzutragen?“
Treue ist zumutbar, weil Gott treu ist. Johannes Paul II. warnte die Jugend vor dem „Abenteuer des immerwährenden Neustarts“: Wer sein Ja widerruft, verliert Heimat und Identität; wer bleibt, wird fest auf dem Felsen der Treue. Das Ideal ist nicht dazu da, uns zu entmutigen, sondern uns zu rufen. Heilige Liebe ist möglich – nicht durch eigene Kraft, sondern durch die Gnade Gottes.
Wer liebt, begegnet dem Kreuz. Deshalb legen in Kroatien Brautleute bei der Hochzeit ein Kreuz in ihre Hände, mit den Worten: „Empfange dein Kreuz!“ Das klingt unromantisch, ist aber zutiefst wahr. Die Liebe Christi wurde am Kreuz vollendet, und jede eheliche wie jede zölibatäre Liebe wird in der Hingabe durchs Leid hindurch geläutert.
In der Eucharistie wird dieses Geheimnis besonders deutlich: „Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird.“ Jede Messe ist eine ultimative Liebeserklärung Jesu. Und die einzige angemessene Antwort des Menschen lautet: „Das ist mein Leib, hingegeben für dich.“ Ehepaare leben diese Sprache in ihrer gegenseitigen Hingabe, bis hinein in die sexuelle Vereinigung, die deshalb zutiefst „eucharistisch“ ist. Ebenso schenkt sich der Zölibatäre ganz Christus. Beide Formen sind Ikonen derselben Wahrheit: Liebe bedeutet Hingabe bis zum Letzten.
Das Kreuz sagt: Liebe ist nicht billig. Aber sie ist treu, heilend und schöpferisch.
Am Ende bleibt die Sehnsucht: nach Annahme, Geborgenheit, Bedeutung. Wir können sie an Ersatzorten suchen – in Macht, Lust, Konsum. Doch dort bleibt sie leer. „Wir sind viel zu leicht zufriedenzustellen“ (C. S. Lewis).
Unsere tiefsten Bedürfnisse – nach Anerkennung, Zuneigung, Geborgenheit, Sicherheit – sind in unser Herz eingeschrieben. Wenn wir versuchen, sie durch Ersatz zu stillen, bleibt ein Loch zurück. Süchte, Pornografie, Arbeitssucht, Konsum – sie sind Illusionen. Gott allein verspricht: „Ich habe Pläne des Heils und nicht des Unheils; ich will euch eine Zukunft und eine Hoffnung geben“ (Jer 29,11).
Zur Heilung gehört das „Ja“ zum eigenen Leib, zur Geschlechterdifferenz, zur eigenen Geschichte. Versöhnung „mit dem Gott des Anfangs“ heißt: Ich nehme an, wie ich geschaffen bin – als Mann oder Frau – und lasse mich in dieser Wahrheit lieben und senden. Wer den Ursprung bejaht, kann sich schenken.
Jesus sagt: „Wer von dem Wasser trinkt, das ich ihm gebe, wird niemals mehr Durst haben“ (Joh 4,14). Unser Problem ist alt: „Sie haben mich, die Quelle des lebendigen Wassers, verlassen und sich Zisternen gegraben, rissige Zisternen, die kein Wasser halten“ (Jer 2,13). Christus führt an die Quelle zurück – nicht an die Zisterne. In ihm findet die Sehnsucht des Leibes ihre Erfüllung. Die Theologie des Leibes ist letztlich ein Ruf zur Quelle: Gott selbst, die Liebe.
Die Theologie des Leibes ist nicht nur Innenarbeit, sondern Sendung. Liebe entzündet Kultur: in Familien, in zölibatärem Dienst, in Laienberufen, besonders durch junge Menschen. Christus setzt auf uns: Er will aus kleinen Lichtern ein großes Feuer machen. Eine Kultur des Lebens wächst, wo Menschen lernen, den Leib wahr zu sprechen – frei, bedingungslos, treu und lebensspendend.
Um es noch deutlicher zu machen:
Liebe schenkt sich dem andern.
Begierde benutzt den andern.
Liebe achtet den anderen als Person.
Begierde behandelt den anderen als Objekt.
Liebe schaut auf das, was für den anderen das Beste ist.
Begierde sucht nur das eigene Glück.
Liebe gibt.
Begierde nimmt.
Johannes Paul II. fasst es in einem Satz zusammen: „Die Begierde ist die Täuschung des menschlichen Herzens“ (Kat. 40:1).
Jesus selbst gibt uns in der Bergpredigt einen wichtigen Hinweis: „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst nicht die Ehe brechen. Ich aber sage euch: Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen“ (Mt 5,27-28).
Was bedeuten diese Worte? „Der Mann, der eine Frau so ansieht, gebraucht die Frau, um seinen Trieb zu befriedigen. Auch wenn er sie nicht in einem äußeren Akt gebraucht, so hat er bereits in seinem Innern diese Haltung angenommen (…)" schreibt Johannes Paul II.: „Der Ehebruch im Herzen wird nicht nur deshalb begangen, weil der Mann die Frau, die nicht seine Ehefrau ist, so ansieht, sondern deswegen, weil er eine Frau generell so anblickt. Auch wenn er seine Ehefrau so anblickte, würde er ebenfalls im Herzen Ehebruch begehen“ (Kat 43:3).
Warum betont Jesus in der Bergpredigt so sehr den Blick des Menschen? Warum gilt der Blick der Begierde auf die Frau – selbst wenn es der Blick auf die eigene Ehefrau ist – bereits als „Ehebruch im Herzen“? Weil der Blick offenbart, dass die Begierde, auch wenn sie sich noch nicht in einer äußerlichen Tat ausgedrückt hat, doch schon die innere Haltung des Herzens ist. Die Haltung des Herzens kommt im Blick zum Ausdruck, in der Art und Weise, wie ein Mann eine Frau ansieht. Dasselbe gilt selbstverständlich auch für den Blick der Frau auf den Mann, denn „der Blick ist Ausdruck dessen, was im Herzen ist“ (Kat. 39:4).
Vermutlich erscheinen uns diese Worte zu hart und zu anspruchsvoll. Sie fordern von uns, dass wir uns unserer inneren Haltung bewusst sind, dass wir uns nicht von unseren Begierden treiben lassen, sondern Herr unserer inneren Regungen sind. Wir werden das Glück, das wir suchen, nicht finden, indem wir alles, was uns Genuss verspricht, konsumieren. Das Glück finden wir in der aufrichtigen Liebe, einer Liebe, die sich dem andern zum Geschenk macht. Doch wir können nur geben, was wir haben. Nur der, der sich selbst besitzt, der im Besitz seiner selbst ist und nicht von seinen Begierden hin und her getrieben wird, kann sich einem geliebten Menschen ganz zum Geschenk machen (vgl. Kat. 48:4). Ganz deutlich bringt es das II. Vatikanische Konzil zum Ausdruck: Der Mensch ist „auf Erden die einzige von Gott um ihrer selbst willen gewollte Kreatur (…), (die) sich selbst nur durch die aufrichtige Hingabe seiner selbst vollkommen finden kann“.
Es ist nicht gleichgültig, wie wir einander anschauen, denn durch unseren Blick offenbaren wir nicht nur, was in unserem Herzen ist. Wir offenbaren auch dem andern, wer er in unseren Augen ist. Wir können unser eigenes Gesicht nicht sehen. Selbst wenn wir uns im Spiegel anschauen, sehen wir nicht unser Gesicht, sondern nur ein Bild unseres Gesichts. Nur andere Menschen können mein Gesicht sehen, so wie es in Wahrheit ist. Das Gesicht, der Blick meines Gegenübers spiegelt mir wieder, was sie in mir sehen. Das Gesicht des andern offenbart mir mein eigenes Gesicht. Wenn ich meinen Mann anschaue, sehe ich dann in seinem Gesicht Freude, Bewunderung und Liebe? Wenn ja, kann ich daraus schließen, dass ich schön, liebenswert und begehrenswert bin. Doch was, wenn ich in seinem Blick nur Enttäuschung, Gleichgültigkeit und Desinteresse lese?
Wir haben beinahe die Fähigkeit verloren zu lieben, wie Gott liebt, aber die Sehnsucht danach ist in unserem Herzen zurückgeblieben. Wir können versuchen, unser Verlangen unbeachtet zu lassen, aber die Sehnsucht stirbt nicht, sie geht in den Untergrund. Unsere Sehnsucht beginnt sich auf andere Dinge zu richten, die uns begehrenswert erscheinen: auf exzessiven Sport, Wellness, Sex, Autos. Wir beginnen unseren eigenen Lügen zu glauben: Wenn ich so viel gearbeitet habe und endlich diese Beförderung bekomme, dann werde ich glücklich sein. Wenn ich endlich meinen Traummann gefunden habe, dann wird mir nichts mehr fehlen. So oft suchen wir das Glück an den falschen Orten und in den falschen Dingen. Wir werden immer wieder aufs Neue enttäuscht.
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Aber das ist nicht wahr. Gott könnte einen endlosen Vorrat an Menschen erschaffen, wenn er wollte. Aber er wollte, dass der Mensch ein Widerhall seiner Schöpferkraft ist, durch die er seine Liebe zum Ausdruck bringt. In Genesis 1,26 heißt es: „Lasst uns Menschen machen als unser Bild, uns ähnlich!“ Was bedeutet das?
Die Liebe kann nicht isoliert existieren. Es muss einen Liebenden geben, einen Geliebten und ein Feuer der Liebe zwischen ihnen. Das ist die Heilige Dreifaltigkeit: eine Gemeinschaft von Personen in lebenspendender Liebe. Gott hat den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen und nach seinem Bild, das wir in unserem Körper das unsichtbare Geheimnis Gottes sichtbar machen: Er ist die Liebe. Wie der Katechismus der Katholischen Kirche sagt: „Liebe ist das Wesen Gottes. Indem er in der Fülle der Zeit seinen einzigen Sohn und den Geist der Liebe sendet, offenbart Gott sein innerstes Geheimnis: Er selbst ist ewiger Liebesaustausch – Vater, Sohn und Heiliger Geist – und hat uns dazu bestimmt, daran teilzuhaben.“
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Die bräutliche Bedeutung des Leibes
In einem der wichtigsten Abschnitte der Theologie des Leibes erklärt Papst Johannes Paul II. die „bräutliche Bedeutung des Leibes“. Das bedeutet, dass der menschliche Leib die Fähigkeit hat, Liebe auszudrücken, durch die der Mensch als Person zum Geschenk wird und den tiefen Sinn des eigenen Daseins erfüllt.
Die bräutliche Bedeutung des Leibes stellt die geistige Schönheit der Zeichenhaftigkeit des menschlichen Leibes in seiner Männlichkeit und Fraulichkeit dar.
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Diese Freiheit ist die Grundlage für die bräutliche Bedeutung des Leibes. Ohne sie kann die bräutliche Liebe, eine Liebe der totalen Selbsthingabe ist, nicht existieren. Schließlich kann ein Mensch nicht geben, was er nicht besitzt. Wenn man keine Selbstbeherrschung hat, ist es unmöglich, sich selbst zu einem Geschenk zu machen. Anstatt sich selbst zu verschenken, benutzt man den anderen als Ventil für die empfundenen sexuellen „Bedürfnisse“.
Durch Selbstbeherrschung wird eine Person jedoch frei zu lieben. Man könnte sogar sagen, dass mit reinem Herzen zu lieben bedeutet, den Sinn des Lebens wiederzuentdecken.
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Die Schönheit Gottes strahlt bis in unsere Welt hinein.
„Frage die Schönheit der Erde, frage die Schönheit des Meeres, frage die Schönheit der Lüfte, die sich ausdehnt ...,frage alle diese Dinge. Alle antworten dir: Schau, wie schön wir sind! Ihre Schönheit ist ein Bekenntnis“, so schreibt Augustinus, und er fährt fort: „Denn wer hat all diese Dinge gemacht, wenn nicht der Schöne selbst?“
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Wenn die "Liebe" eines Menschen den Geliebten verletzt, dann ist das nichts weiter als die Fälschung der Liebe, die Begierde.
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Der Zölibat ist nicht natürlich, er ist übernatürlich. Der authentisch gelebete Zölibat ist die Erfüllung der Sexualität. Für Jesus nur das Beste, nur das kostbarste Öl, wie es Maria Ihm gibt. Es ist die volle Hingabe ohne Berechnung. Ich schenke mich Gott – vollständig, ganz und für immer. Der Mensch, der um des Himmelreichs willen zölibatär lebt, gibt seine ganze Sehnsucht nach Liebe und ehelicher Gemeinschaft hin, im Hinblick auf die Hochzeit mit Christus im Himmel. Der jungfräuliche Mensch nimmt so in seinem Fleisch die neue Welt der kommenden Auferstehung vorweg. Sie bezeugen: Gott allein genügt. Die im Zölibat geweihten Männer und Frauen erinnern alle Getauften daran, dass die irdische Welt nicht der Ort ist, wo sich alle Sehnsüchte erfüllen. Sie erinnern uns daran, dass das Ziel aller Getauften letztlich die Vereinigung mit Christus ist. Die Familien hingegen erinnern an die Verpflichtung zur Treue, die Selbstentäußerung des Ehepartners oder der Kinder wegen, die Liebe untereinander, die ein Abbild der Liebe Gottes ist, und an die Fruchtbarkeit, die auch geistliche Kinder zeugen soll.
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Die Ehe und besonders die Einheit von Mann und Frau sind ein Abbild der Hingabe Christi an seine Braut. Dieses „Ein-Fleisch-werden“ geschieht vor allem in der Eucharistie: „Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird.“ Jede Eucharistiefeier ist eine „ultimative Liebeserklärung“ Jesu, auf die die einzig angemessene Antwort lautet: „Jesus, das ist mein Leib, hingegeben für dich!“
Alles Tun – Eltern, die nachts aufstehen, ein Priester, der Beichte hört, alltägliche Arbeit oder Leiden – kann so zur Liebeserklärung werden: „Das ist mein Leib, hingegeben für dich.“ In der Ehe zeigt sich dies besonders in der gegenseitigen Hingabe des Alltags und „ganz explizit […] in der sexuellen Vereinigung“, die „eucharistisch“ ist, weil sich in ihr – wie in der Eucharistie – Dankbarkeit und völlige Hingabe des Leibes vollziehen.
Die Liebe Christi am Kreuz ist Vorbild: „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für einen anderen hingibt.“ Ehe und Hingabe sind eine „Ikone, ein Abbild der Liebe“ Christi. Johannes Paul II. betont: „Der Mensch kann nicht ohne Liebe leben … sein Leben ist ohne Sinn, wenn er nicht der Liebe begegnet.“
Der Grund für Jesu Liebe liegt in seiner Verbundenheit mit dem Vater: „Der Einzige, der … bleibend im Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde gebracht“ (Joh 1,18). Nur wenn die Liebe Gottes in uns brennt, können wir lieben „wie Gott liebt“.
Die Liebe ist frei, bedingungslos, treu und lebensspendend.
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Die Liebe Gottes ist treu. Aber ist Treue ein Leben lang möglich?
Johannes Paul II. sagte bei einem Treffen mit Jugendlichen: „Es ist von Grund auf verfehlt, zu glauben, die Verwirklichung von Personen bestehe in dem Abenteuer, immer wieder von Neuem beim Punkt Null zu beginnen, den Partner wechseln zu können, wann man wolle, statt – obwohl es Schwierigkeiten kostet – dem einmal gesagten Ja treu zu bleiben. Wer das Ja widerruft, das er gesagt hat, wer die einmal geschenkte Liebe widerruft, reißt sich selbst von den Fundamenten los, in denen sein Leben verankert ist. Er hat keine Heimat mehr, und sein Leben wird in einen unaufhörlichen Fall hineingerissen, der im ersten Moment verlocken kann, aber unvermeidlich zum Verlust der eigenen Identität, zur Selbstzerstörung führt.“
Und zu den Jugendlichen in Kanada sagte er: „Als ich eure Briefe las, war ich beeindruckt von dem vielen Leid, das sie zum Ausdruck bringen. Zu viele von euch leiden unter dem Zusammenbruch des Familienlebens, unter Trennung oder Ehescheidung; und ihr seid so tief verwundet, dass ihr sogar die Frage stellt, ob eine treue und dauernde Liebe wirklich möglich sei. Es ist nicht unsere Sache zu urteilen, (…) aber ich möchte euch sagen: Zweifelt nicht; ihr könnt ein Heim auf dem Felsen der Treue bauen, denn ihr könnt voll auf die Treue Gottes zählen, der Liebe ist.“
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Jesus bittet uns, Gottes Liebe zu unserem Maßstab der Liebe zu machen. Ist das zu hoch gegriffen? Ist das nicht ein Anspruch, dem wir niemals genügen können und der uns letztlich nur entmutigt?
Johannes Paul II. sagte bei seinem Besuch in Kinshasa zu jungen Leuten: „Ihr tut gut daran, eure Grenzen zu sehen. Aber ihr dürft dennoch nicht Gottes Erwartung an euch verkleinern. Mag die christliche Ehe auch mit einem hohen Gebirge vergleichbar sein, das die Eheleute in die unmittelbare Nachbarschaft Gottes hebt, so muss man doch anerkennen, dass der Aufstieg viel Zeit und Mühe kostet. Aber wäre das ein Grund dafür, das Gebirge abzutragen oder niedriger zu machen?“ 92
Lieben heißt, sich dem andern hinzugeben. Liebe ist kein
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Gefühl, Liebe ist eine Entscheidung und in ihrer tiefsten Wirklichkeit ist sie eine Gabe. „Um wirklich lieben zu können, muss man sich von vielen Dingen und vor allem von sich selbst losmachen, muss man unentgeltlich geben und lieben bis ans Ende. Diese Selbsthingabe – ein Werk, das lange Zeit beansprucht – ist mühsam und erhebend. Sie ist die Quelle des inneren Gleichgewichts. Sie ist das Geheimnis des Glücks (…).“ 93
„Habt den Mut, diese Liebe zu suchen.“ 94
Agape ist die sich schenkende Liebe, eine Liebe ohne Begierde, eine Liebe, die nicht rechnet, die keine Antwort braucht, eine Liebe, die wie eine sprudelnde Quelle ist und die nicht fragt, wie viel du schon daraus getrunken hast. Eine Liebe, die nicht fragt, ob man dankbar ist. Es ist die bewusste und gewollte Entscheidung, uns selbst jemand anderem zu schenken.
Agape ist die vertikale Liebe, die von Gott zu uns kommt.
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Und wir können uns fragen: Wie kann diese Liebe Gottes, diese Agape, in unser Herz eintreten, in unser Leben als Ehepaar, in unsere Familie?
Ist diese Agape in meinem Leben schon Realität? Leben wir in unserer Ehe, in unserer Familie schon in dieser Liebe, die sich dem andern zum Geschenk macht?
Am Tag unserer Hochzeit hat Gott uns durch das Sakrament der Ehe seine Agape für ein ganzes Leben lang zugesichert.
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Die Ehe ist eine große und manchmal auch schmerzvolle Aufgabe. Wenn die Liebe der Ehepaare ein Abbild der Liebe Christi ist, dann kann es auch gar nicht anders sein.
Die Hochzeit Christi mit seiner Braut, der Kirche, hat sich am Kreuz vollzogen, durch Leiden und Tod hindurch. Das bedeutet, dass das Leid auch zu unserem ehelichen Leben dazugehört.
In Kroatien gibt es einen schönen Brauch: Bei der Trauung legt der Priester die Hände des Paares ineinander. Dann legt er in die andere Hand der Braut ein Kreuz und sagt: Empfange dein Kreuz! Danach legt er es dem Bräutigam ebenfalls in die freie Hand mit den gleichen Worten: Empfange dein Kreuz!
Zugegeben, diese Geste scheint uns am Hochzeitstag nicht sehr romantisch. Dennoch drückt sie etwas sehr Schönes über die Ehe und das Wesen der Liebe aus.
Diese Geste erinnert das Paar daran, dass sie sich zugesagt haben, einander mit der Liebe Christi zu lieben, und die Liebe Gottes ist eine starke, treue, sich hingebende Liebe. Sie ist eine vergebende und barmherzige Liebe. Diese Geste bringt
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nehmen, wie er uns geschaffen hat. So viele Menschen unserer Zeit tun sich schwer, diese Tatsachen anzunehmen: zu sein, wie sie sind – Menschen mit diesem Geschlecht, diesen Wesensmerkmalen, mit dieser Vorgeschichte, mit dieser Familie. Sich mit dem Gott des Anfangs versöhnen heißt, Ja sagen zu mir selbst, Ja sagen dazu, dass Gott mich hier und jetzt und unter diesen Umständen leben lässt. Das bedeutet auch, Ja zu sagen zu meiner Geschichte, meiner Verwundbarkeit und meiner Gebrochenheit.
Am Anfang der Menschheitsgeschichte waren wir mit einer großen Ehre ausgestattet, schreibt John Eldredge¹⁰⁴. Wir alle waren nach dem Bild Gottes geschaffen, ehrfurchtgebietend und wunderbar. Diese Herrlichkeit haben wir verloren, doch sie ist bis zum heutigen Tag das Streitobjekt zwischen Gott und dem Feind. Gott hat uns nicht unserem Schicksal überlassen, sondern er ist in den Kampf gezogen, um uns zu befreien. Wofür kämpft Gott? Für unsere Wiederherstellung. Seine Verheißung über unser Leben lautet: Ich habe „Pläne des Heils und nicht des Unheils denn ich will euch eine Zukunft und eine Hoffnung geben“ (Jer 29,11).
Wir müssen nicht ängstlich um unsere Schwachheit kreisen, sie zum Mittelpunkt unseres Lebens erklären. Nein, wir können den Blick erheben und auf den ursprünglichen Plan Gottes für uns schauen. Wenn Gott uns anschaut, meinen viele Menschen, dass er in erster Linie unsere Fehler, unsere Sünde sieht. Nein, er sieht in uns den Menschen, den er nach seinem Bild in seiner Herrlichkeit geschaffen hat. Er sieht in uns sein Abbild, das er unendlich liebt. Ja, wir sind erlöst, doch ist die Erlösung in uns noch nicht vollendet. Es ist ein Weg der Wiederherstellung, den wir mit Geduld gehen sollten.
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Das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit: Ich sehne mich nach jemandem, der mich mag, der mich annimmt, mich in den Arm nimmt.
Das Bedürfnis nach Zuneigung: Ich sehne mich nach jemandem, der an mir Gefallen findet, jemand, der sich freut, wenn er mich sieht, der mich annimmt, so wie ich bin.
Das Bedürfnis nach Bestätigung: Ich sehne mich danach zu wissen, dass ich ein toller Typ bin, „dass ich das Zeug dazu habe“ und in den Augen der anderen den Anforderungen des Lebens gewachsen bin.
Das Bedürfnis nach Annahme: Ich sehne mich danach, dazuzugehören, von jemandem ersehnt und erwartet zu werden.
Das Bedürfnis nach Zufriedenheit: Ich sehne mich nach der Fülle des Lebens, nach Erfüllung in der Arbeit, nach Wohlergehen.
Das Bedürfnis, Bedeutung zu haben: Ich sehne mich danach, bedeutend zu sein, „jemand“ zu sein, etwas zu leisten und meinem Leben einen Sinn zu geben.
Die Sehnsucht nach Sicherheit: Ich sehne mich danach, dass ich wirklich o. k. bin.
Die Ersatzbefriedigungen, denen viele Männer oft hinterherlaufen, ersetzen nach Cusick die Stillung eines oder mehrerer dieser sieben Grundbedürfnisse. Unsere „kleinen Laster“ sind somit der Ersatz für unsere echten Bedürfnisse nach Liebe, Anerkennung, Akzeptanz, nach Geborgenheit in Gott. Und nicht zuletzt bieten sie in diesem Moment eine Illusion von alledem an.
Alkohol, Spielsucht, Pornokonsum sind keine für sich allein stehenden Güter, sie sind Ersatzbefriedigungen für ein Loch, einen Leerraum in unserem Herzen. Dieser Leerraum wird aber durch Süchte und Süchteleien nicht gefüllt. Das ist unsere Erfahrung: Wir bleiben leer! Und wie geht es weiter? Keine Sucht kann dadurch überwunden werden, dass man
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„Wir sind halbherzige Geschöpfe, weil wir mit Alkohol, Sex und Ehrgeiz herumspielen, während uns unendliche Freude angeboten wird. Dabei gleichen wir einem unwissenden Kind in einem Elendsviertel, das weiter im Dreck spielt, weil es sich nicht vorstellen kann, was es bedeutet, Ferien am Meer angeboten zu bekommen. Wir sind viel zu leicht zufriedenzustellen.“ ¹⁰⁷
Während wir noch versuchen, unsere Lust und Sehnsucht zu zügeln, lädt Gott uns ein, dass uns unsere Sehnsüchte tiefer führen. Aber wie Lewis schreibt, wir sind viel zu leicht zufriedenzustellen. Unser Problem hat Gott selber erkannt: Im Buch Jeremia heißt es: „Denn mein Volk hat doppeltes Unrecht verübt: Mich hat es verlassen, den Quell des lebendigen Wassers, um sich Zisternen zu graben, Zisternen mit Rissen, die das Wasser nicht halten“ (Jer 2,13).
Der Ort, wo unsere tiefsten Sehnsüchte gestillt werden, ist die Quelle des Lebens, die Quelle lebendigen Wassers, ist Gott selbst. Wir haben ihn verlassen und suchen unseren Durst jetzt an Zisternen zu stillen, die gefüllt sind mit abgestandenem, trübem Wasser. Die Einladung Gottes an uns spricht Jesus aus. Jesus antwortet der Frau am Jakobsbrunnen: „Wer von diesem Wasser trinkt – (hier denke ich an unsere Zisternen) –, wird wieder Durst bekommen; wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, wird niemals mehr Durst haben; vielmehr wird das Wasser, das ich ihm gebe, in ihm zur sprudelnden Quelle werden, deren Wasser ewiges Leben schenkt“ (Joh 4,13).
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Diese kleine Episode am Todestag Johannes Pauls II. wirft ein Licht auf seine Person und seine Beziehung zu den jungen Menschen. Wie Paulus, dem er nachgeeifert hat, war Johannes Paul II. selbst ein unermüdlicher Evangelisierer.¹⁰⁹
„Ich heiße Paulus“, sagte er von sich selbst zu Beginn seines Pontifikats am 16. Oktober 1978 in Rom: und „Die Kirche ist unaufhörlich im Zustand der Mission.“ Seine Vision, eine Kultur des Lebens aufzubauen, vertraute er in erster Linie den Laien an und unter ihnen besonders den Jugendlichen: „Ich möchte euch noch einmal auffordern, zu Aposteln einer Neuevangelisierung zu werden, um die Zivilisation der Liebe aufzubauen.“ Gerade den Jugendlichen vertraute er aber auch seine Sorgen an: „Das Problem, das mich am meisten besorgt macht, ist die Unkenntnis und das Vergessen Gottes (…) Eine Menschheit ohne Vater und somit ohne Liebe bereitet ihre Zerstörung vor (…). Ihr jungen Menschen, die Zukunft der Welt hängt von euch ab. Seid diese Zukunft!“ ¹¹⁰
Auf dem Weltjugendtag in Denver 1993 sandte Johannes Paul II. die Jugend der Welt mit den Worten aus: „Habt keine Angst, auf die Straßen und überallhin zu gehen. Es ist jetzt nicht die Stunde, sich des Evangeliums zu schämen, sondern die Stunde, es von den Dächern herab zu predigen. Geht zu den Menschen, um sie zum Mahl einzuladen, das Gott für sein Volk bereitet hat! Denn Jesus ist auf die Suche nach den Männern und Frauen unserer Zeit gegangen (…).
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In der orthodoxen Kirche erzählen sich Christen die folgende Geschichte:
„Nach Ostern, als Christus in den Himmel auffahren sollte, schaute er noch einmal auf die Erde und sah sie eingehüllt in Dunkelheit, mit Ausnahme einiger kleiner Lichter, die die Stadt Jerusalem erhellten. Als der Herr gerade in den Himmel emporstieg, begegnete er dem Engel Gabriel, der eine irdische Mission zu erfüllen hatte.
Der göttliche Bote fragte ihn: ‚Herr, was sind das für kleine Lichter dort in Jerusalem?‘
Der Herr antwortete: ‚Das sind die Apostel, die um meine Mutter versammelt sind. Mein Plan ist, dass, wenn ich in den Himmel zurückgekehrt bin, ich ihnen den Hl. Geist senden werde, damit diese kleinen Lichter zu einem großen Feuer werden und die ganze Welt mit Liebe entzünden.‘
Der Engel Gabriel sagte nachdenklich: ‚Und, Herr, was wirst du tun, wenn dieser Plan misslingt?‘ Nach einem langen Schweigen antwortete der Herr: ‚Ich habe keinen anderen Plan.‘“